Zwischen Solidarität und Stille: Queere Perspektiven im Nahost-Konflikt


Der Nahost-Konflikt ist ein komplexes Thema, das viele Facetten und Interessen umfasst. Neben politischen, religiösen und territorialen Aspekten spielen auch Menschenrechte eine Rolle. Die Rechte von queeren Menschen. Inmitten der Konflikte und Spannungen in der Region sind sie oft Opfer von Diskriminierung, Gewalt und Unterdrückung. Wie blickt die queere Community in Bayern auf den aktuellen Krieg und ihre eigene Verantwortung?

(Copyright: Mikael Blomkvist)

Queere Menschen in Israel haben im Vergleich zu anderen Ländern im Nahen Osten mehr Rechte und Freiheiten. Israel ist bekannt für seine progressive LGBTIQ*-Gesetzgebung. Tel Aviv wird oft als eine der LGBTIQ*-freundlichsten Städte der Welt bezeichnet. Dennoch gibt es auch in Israel Diskriminierung gegenüber queeren Menschen, insbesondere durch konservative religiöse Gemeinschaften.

In den palästinensischen Gebieten hingegen sind queere Menschen oft extremer Diskriminierung ausgesetzt. Die patriarchalische Gesellschaft und die konservative Auslegung des Islam machen es für LGBTIQ*-Personen schwer, offen zu leben und sich zu entfalten. Viele fühlen sich gezwungen, ihre sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität zu verbergen, um nicht Opfer von Gewalt und sozialer Ächtung zu werden.

Die Frage der Menschenrechte, einschließlich der Rechte von queeren Menschen, ist einer von zahlreichen Aspekten des Nahost-Konflikts. Sie wirft ethische Fragen auf und erfordert eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den universellen Prinzipien der Gleichheit und Freiheit. Wie können wir uns für Frieden in der Region einsetzen und dabei die Rechte aller Menschen respektieren? Warum werden progressive, liberale und queere Gemeinschaften in besonderem Maße Zielscheiben von Terror?


Solidarität und Engagement auch in München

In der bayerischen Landeshauptstadt München, einer Stadt mit einer lebendigen queeren Community, gibt es einige Menschen, die sich aktiv für Frieden im Nahen Osten engagieren.

Ein*e Pro-Palästina-Aktivist*in aus dem Münchner Umland (die hier anonym bleiben will) betont in einer Nachricht an den LSVD Bayern die Notwendigkeit, die Rechte der palästinensischen Bevölkerung zu respektieren und anzuerkennen. Die Person schreibt: “Die Besatzung und Unterdrückung der Palästinenser*innen durch Israel führt zu schweren Menschenrechtsverletzungen, auch gegenüber queeren Menschen.” Worum es aus Sicht der Person nun gehen müsse, fasst sie so zusammen: “Wir müssen uns für eine gerechte und nachhaltige Lösung des Konflikts einsetzen, die die Rechte wirklich aller Beteiligten respektiert und absichert.


Warum die Spaltung?

Werner, ein anderer Aktivist aus München, fordert mehr Solidarität mit den Opfern des Nahost-Konflikts und betont die historische Verantwortung Deutschlands in Bezug auf den Schutz jüdischer Menschen. Er bezeichnet die Stille vieler queerer Menschen in Deutschland als beschämend. “Ich engagiere und positioniere mich seit Jahren politisch und diskutiere somit sehr häufig über das Thema. Mit Menschen, die sich propalästinensisch, proisraelisch oder auch neutral verorten.“, stellt Werner fest. Seit kurzem beobachte er allerdings eine gefährliche Anzahl neuer selbsternannter Expert*innen, die zu schnell Partei, für die eine oder andere Seite, ergreifen: “Die Mehrheit hier spricht nicht mehr von den Massakern vom 7. Oktober 2023, die laut dem obersten Hamas-Chef nur der Anfang waren. Auch nicht von der Charta der Hamas, nicht von den Raketenangriffen auf Israel und auch nicht von den immer noch im Gazastreifen gefangenen Geiseln.” Er sagt weiter: “Israel hat – wie jedes andere Land auch – ein Selbstverteidigungsrecht. Ich lebe (noch) nicht in dieser Bedrohung, kann aber nach meinem kürzlichen Besuch in Israel unterschiedliche Positionen gut nachvollziehen. In erster Linie bin ich auf der Seite der Demokrat*innen in Israel und gegen die Hamas.

Diskussionen zum Nahostkonflikt nimmt der Münchner Aktivist vor allem als aggressiv, beleidigend und hasserfüllt wahr. Insbesondere durch das Verhalten von propalästinensischen Beteiligten. “Es wird von vornherein unterstellt, man sei gegen die Menschen in Gaza oder in der Westbank oder man unterstütze die rechtsextreme Regierung Israels, wovon ich weit entfernt bin. Mir würde es umgekehrt nie einfallen, eine Person, die sich als propalästinensisch offenbart, proaktiv aggressiv zu beleidigen und zu verurteilen.“, betont Werner und fügt an: “Wenn sich eine demokratische palästinensische Bewegung auftut, die das Existenzrecht Israels anerkennt und die lebensfeindliche Hamas-Ideologie und deren menschenfeindliche islamistische Ideologie ablehnt, würde ich sie sofort unterstützen.


Verbindungen knüpfen und die Menschlichkeit bewahren

Eine Form von organisierter Solidarität haben einige Münchner Aktivist*innen in der Gruppe “Be’er Sheva Munich Queer” gefunden. Nachdem die bayerische Metropole eine Städtepartnerschaft mit der Großstadt Be’er Scheva im Süden Israels knüpfte, begann die Gruppe bereits vor dem vergangenen Oktober erste queere Verbindungen zur lokalen Community aufzubauen. Es fanden sogar einzelne Besuche von Münchner Queers in Be’er Sheva statt.

Drei Beteiligte erzählen nun, wie sehr sich die Lage in den letzten Monaten verändert hat. Wolfgang sagt: “Wir mussten gegenseitige Besuche von Delegationen leider zurückstellen. Aber wir erfahren mehr innere Verbundenheit. Not verbindet.” Verena ergänzt: “Wie Wolfgang schon beschrieben hat, musste leider der geplante Besuch seitens einiger Menschen aus der queeren Community Be’er Shevas verschoben werden. Aktuell können wir nicht genau beurteilen, wann ein Austausch im realen Leben möglich sein wird. Bis dahin bleiben wir weiterhin engmaschig online in Kontakt und hoffen auch so die Communites einander näher zu bringen.

In Be’er Scheva leben über 200.000 Menschen. Darunter auch viele engagierte queere Aktivist*innen, die Veranstaltungen und Safer Spaces, besonders auch für Araber*innen der Region, organisieren. Frank aus der Münchner Gruppe beschreibt die aktuellen Entwicklungen als bedrückend, aber auch erhellend: “Der Konflikt hat mir noch deutlicher gemacht, dass wir viel über jüdische Kultur, Lebens- und Fühlweisen und auch die vielfältige Gesellschaft in Israel lernen müssen. Ich möchte als Freund hier in Deutschland nicht zu denen gehören, die die ‘berühmte Kritik unter Freunden’ an die erste und einzige Stelle stellen. Ich möchte als Freund zuhören, lernen, reflektieren und eine Brücke bauen, um zueinander zu finden. Mit der Community dort in Kontakt zu sein empfinde ich als großes Privileg – es sind wirklich tolle Menschen, die uns viel geben können.

Was sich die Gruppenmitglieder von den queeren Communities und Organisationen in Deutschland insgesamt im Kontext des Nahost-Konflikts wünschen? Mehr Differenzierung. Den aktiven Schutz von Menschenleben in Nahost und einen konsequenten Kampf gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit – auch hier bei uns.

Verena: “Ich würde mir von der queeren Community ein genaueres Hinsehen erhoffen. Ob ein terroristischer Akt, dessen Opfer in erster Linie die Zivilbevölkerung Israels ist, die richtige Art ist, eine empfundene Art der Unterdrückung zu beenden, halte ich für fragwürdig. Leider habe ich manchmal das Gefühl, dass viele hier nach dem Motto ‘Der Zweck heiligt die Mittel’ denken. Das macht mich traurig.

Frank: “Ich wünsche mir, dass wir es niemals zulassen, dass jüdische Menschen bei uns, aber auch in allen anderen Teilen der Welt, die Wut auf den hochkomplizierten Konflikt hier als Hass oder Gewalt abbekommen und erleiden müssen. Antisemitismus ist ein schreckliches Monster, welches, wenn es erstmal unsanktioniert in der Gesellschaft wüten darf, nur schwer wieder zu bändigen ist. Und das wäre ein schrecklicher Bruch von ‘Nie wieder!’ und eine unerträgliche Ignoranz. Ich wünsche mir von der queeren Community, dass sie versteht, dass es ein empfindliches, gefährliches und vielleicht sogar für sie selbst schädliches Zündeln ist, sich mit antisemitischem Aktivismus oder Gedankengut zu assoziieren.

Wolfgang: “Ich bitte darum, Vergewaltiger, nur weil sie Araber sind, nicht plötzlich Freiheitskämpfer zu nennen. Ich wünsche mir die Anerkennung, dass Israel mit jedem Nachbarn, der ihm sein Lebensrecht zugesteht, Frieden geschlossen hat. Und ich wünsche mir eine Wertschätzung, dass Israel das einzige Land im Nahen Osten mit queeren Rechten, Pride-Feiern und queeren Zentren, in denen jüdische Menschen und Araber*innen sich gemeinsam engagieren, ist.


Wie Verantwortung in Bayern aussehen kann

Mit ihrem Engagement teilen diese Aktivist*innen einen gemeinsamen Wunsch: Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit im Nahen Osten. Aber wie kommen wir diesen Zielen näher? Vielleicht indem wir erst einmal auf uns selbst achten. Auf destruktiv-vereinfachende Diskussionen verzichten und auch den Antisemitismus bzw. Rassismus in den eigenen Communities aufarbeiten. Denn nur durch den offenen Austausch zwischen Menschen unterschiedlicher Perspektiven können wir Gemeinsamkeiten finden und Brücken bauen, die nicht nur im Nahost-Konflikt dringend nötig sind.

Es ist an der Zeit, dass Bayern sich stärker für den Frieden und die Menschenrechte im Nahen Osten engagiert. Dies könnte durch den Ausbau zivilgesellschaftlicher Verbindungen zwischen Menschen aus Bayern, Israel und Palästina geschehen. Bayern muss sich aber auch innen- und außenpolitisch konsequent gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit einsetzen. Dazu gehört das proaktive Einbeziehen queerer Lebensrealitäten in politisches Handeln, sowie die Förderung und Einbindung von internationalen Menschenrechtsorganisationen wie beispielsweise der Hirschfeld-Eddy-Stiftung.

Wenn queere Menschen in Israel und Palästina zukünftig in Frieden leben können sollen, dann muss auch die gesamte Welt eine friedlichere sein.


Mehr Informationen: Internationales Engagement für LSBTIQ* (lsvd.de)